Twitter am Ende?

Möglicherweise bin ich ein Nachrichtenjunkie. Ich bin ohne BLÖD großgeworden (Danke dafür!), bei uns gab es das Hamburger Abendblatt, das landete – soweit ich mich erinnere – immer am späten Mittag in unserem Briefkasten und wurde nach der Schule von mir verschlungen. Andere Zeitungen und Magazine wurden am Kiosk gekauft. Jedenfalls gab es immer ausreichend Nachrichten zu lesen, um 19 Uhr wurde heute angeschaltet, wenn’s in den Tagesablauf gepasst hat, um 20 Uhr gab es immer die tagesschau. Und schon früh lernte ich den Spruch kennen:

Nichts ist älter als die Zeitung von gestern.

Und heute ist es zwar so, dass ich morgens zwar die tagesthemen vom Vortag ansehen könnte – aber eigentlich sind die dann auch schon alt.

News, News, News

Heute passiert an einem Tag gefühlt so viel wie früher in einer Woche. Das ist natürlich Quatsch, nur es gibt nun viel mehr Möglichkeiten, News zu konsumieren, nicht nur, dass es viel mehr Zeitungen und Magazine gibt (gab!), nicht nur, dass es viel mehr TV-Sender gibt – es gibt vor allem das Internet. Da kann man Push-Nachrichten bekommen und auf SpiegelZeitTazFAZ-Online schauen – oder bei X-Twitter. Wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, liest (las) man als erstes auf Twitter davon. Sicher, man muss immer genau hinsehen, wie authentisch Berichte, Bilder, Videos sind und sich auch die Quellen anschauen, aber unterm Strich bleibt, dass keine Nachrichtenagentur so fix, und in kurzer Zeit so intensiv und so vielfältig berichten kann, wie man Tweets auf Twitter finden kann – oder konnte. Auch, wenn man sich für eher abseitige Themen oder exotische Länder 😉 interessiert: auf Twitter kann man das lesen, was es anderswo nicht gibt.

Ich habe vor einiger Zeit ja schon erzählt, wie wichtig Twitter als News-Aggregator für mich war – und deswegen auch noch ist, es gibt noch keine Alternative dazu. Mastodon als soziales Netzwerk ist nett (=guter Umgangston, viele interessante Nischen), aber es ist noch zu klein und zu wenig verbreitet, um auch nur annähernd so viele Eindrücke zu vermitteln, wie wir das von Twitter gewohnt sind.

Auch kein Fun mehr

Aber Twitter zu nutzen ist immer unangenehmer, gefühlt sehe ich nur noch Werbung und statt News und netter Ex-und-Hopp-Unterhaltung von Schmunzel- und Paulanergartentwitter nur noch Strunzdumm- und Blaubrauntwitter: Danke, ich verzichte, meine Twitternnutzung hat sich drastisch reduziert. Und dann kam auch noch der Supergau: die Musk-Version von Beitragsbemessungsgrenze. 600 Beiträge? Da bin ich in kurzer Zeit dran vorbeigescrollt. Elon Geld zu geben, damit ich ein bisschen mehr Mist wegblocken muss? Kommt überhaupt nicht in Frage.

Wann ist der Zeitpunkt, an dem man gehen muss?

Und Polittwitter? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sich anständige Menschen und demokratische Parteien von X-Twitter verabschieden sollten? Soll man sich womöglich in ein Abo drängen lassen, um Ex-Twitter noch richtig nutzen zu können – und damit Musk nicht nur ideell, sondern auch noch finanziell zu unterstützen? Rechtfertigt vermeintliche (!) Reichweite das? X-Twitter ist ein Unternehmen, das Journalisten-Anfragen mit einem Kackhaufen-Emoji beantwortet (angeblich seit gestern nicht mehr, wesentlich besser sollen die automatischen Antworten aber auch nicht sein), dessen Eigentümer den ganz rechten Rand befeuert und unterstützt und absehbar auch einen unguten Einfluss auf Kandidatenaufstellung und Wahl in den USA haben wird. Eigentlich müsste man dort doch sofort weg – nur wohin? Aber kann man bleiben, weil es (noch?) keine gute Alternative gibt?

Mit der Umbenennung zu X ist Twitter nun am Ende. Zumindest vom Namen her.

X als westliches WeChat?

In China ging für mich nichts ohne WeChat (wobei erstaunlicherweise nach dem kompletten Wegfall der Pandemie-Maßnahmen ein Tempel tatsächlich nicht mehr mit WeChat, sondern nur noch Cash oder Alipay akzeptiert hat). Chatten, News, Gruppen, Bilder teilen, Shoppen, Essen und Lebensmittel bestellen, Tickets kaufen, unzählige Mini-Apps, von der blöden Corona-Health App mal lieber nicht reden… Klar, alles aus einer Hand, aus einem Guss, das ist einfach und praktisch. Aber dann liegen halt auch alle – auch die ganz sensiblen Daten – in einer Hand, und das kann nicht gut sein.

X-Man will nun aus Twitter ein westliches WeChat basteln. Man muss über keine besonderen prophetischen Gaben verfügen, um zu behaupten, dass er das nicht hinbekommen wird. Erstrebenswert ist das eh nicht. Faulheit und Bequemlichkeit sind ja ganz schön, aber Freiheit und Sicherheit sind dann wohl doch wichtiger.

Kurzer Ausflug zu Threads

Als Threads an den Start ging, habe ich mir die APK heruntergeladen und konnte es ein paar Tage ausprobieren. Klar, es hat gute Gründe, dass die App noch nicht offiziell in Deutschland erhältlich ist, aber meine Neugier war groß und die Start-und Aufbruch-Stimmung dort war schon gut. Der Spaß war aber schnell wieder vorbei, weil Threads in Europa nun nicht mehr funktioniert. Es wird wohl auch noch eine ganze Weile dauern, bis es soweit ist.

Alternativen? Fehlanzeige.

Ich habe aber auch gewisse Zweifel, dass Threads das wird, was Twitter mal war, Politik ist laut Entwicklern dort nicht unbedingt erwünscht. Dazu kommt, dass Meta bei Instagram und Facebook immer wieder Accounts willkürlich sperrt und es keine Möglichkeit gibt, dagegen vorzugehen. Ich geh davon aus, dass das auch bei Threads so kommen wird. Und da haben wir das Problem. Ist die Idee eines öffentlich-rechtlichen Kurznachrichtendienstes womöglich doch gar nicht so schräg?

Podcast-Empfehlungen

Gavin Karlmeier und Dennis Horn beleuchten in ihrem Podcast Haken dran – das Twitter-Update seit November jeden Werktag das Geschehen rund um Twitter und mögliche Alternativen. Das ist nicht nur äußerst informativ, sondern auch sympathisch und unterhaltsam.

Ein guter Rückblick, wenn man sich bisher nicht mit dem Thema befasst hat: Wondery: Den Vogel abgeschossen – Elon Musk vs. Twitter. In sechs halbstündigen Episoden wird die Übernahme von Twitter und die Person Elon Musk beleuchtet.

Mein vorläufiges Fazit

Ich habe meinen Twitter-, Verzeihung, X-Account immer noch, und ich nutze ihn auch wieder etwas mehr. Aber das schlechte Gewissen meldet sich immer wieder mal. Mangels Alternative rede ich mich damit raus, dass große, wichtige Organisationen, Parteien und Medien auch noch dort vertreten sind, dann kann ich kleines Licht ja auch bleiben. Noch.

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