Schweigen, decken, weitermachen

Gestern Abend war ich im Kino, habe den Ritt durch ein wildes, schräges, krass übertriebenes Abenteuer genossen. Zwei Stunden perfekte Realitätsverweigerung im Kino – dann schalte ich mein Handy ein. Die erste Schlagzeile: „Vorwurf der sexuellen Belästigung gegen CDU-Politiker aus Sachsen-Anhalt“.

Der Abend war für mich gelaufen, denn mich hat das in meinen eigenen Schmerz zurückgeworfen: Ekel, Scham, Angst.

Oft werden solche Übergriffe als Einzelfälle abgetan – als wäre es „nicht so schlimm“ oder sie „stelle sich nur an“. Aber nein: Es sind keine Einzelfälle. Und es ist schlimm. Denn wer sexualisierte Gewalt erlebt, wird nicht ernst genommen – sondern entmenschlicht, objektifiziert, zum Spielball männlicher Macht.

Das „Sorry“-Phänomen: Bagatellisierung durch Männer

Inzwischen ist Kurze als parlamentarischer Geschäftsführer, nicht aber als Abgeordneter zurückgetreten. Er werde sich bei der Betroffenen entschuldigen – und glaubt, dass ihn das aus der Verantwortung nimmt? Das ist ein weit verbreiteter Abwehrmechanismus.

Männer in Machtpositionen nutzen Übergriffe, um ihre Dominanz zu festigen. Institutionen decken Täter oft – und die Opfer bleiben isoliert und in der Minderheit.

Durch die schnelle Entschuldigung wird die Situation verniedlicht, man beruft sich auf Missverständnisse oder betont, es sei ja nur einmal vorgekommen. Das funktioniert besonders gut bei Machtgefällen – und die Männer beanspruchen noch im Nachinnein die Deutungshoheit.

In seiner Erklärung betonte Kurze, er habe „die Situation offensichtlich falsch eingeschätzt“ und bedaure, „die Gefühle der betroffenen Frau verletzt“ zu haben. Er wolle sich bei ihr persönlich entschuldigen.

Was auf den ersten Blick nach Einsicht klingen mag, ist bei genauerem Hinsehen ein rhetorischer Rückzug in die Deckung – und vor allem: keine echte Übernahme von Verantwortung.

Das Problem heißt nicht „falsche Einschätzung“

Wer von einer „falschen Einschätzung“ spricht, gesteht kein Fehlverhalten ein, sondern stilisiert sich zum Opfer eines Missverständnisses. Doch sexuelle Belästigung ist keine Frage der Deutung – sie ist ein Übergriff. Sie nimmt einem anderen Menschen die Würde, die Sicherheit, die Autonomie. Wer sie begeht, handelt nicht „unglücklich“ oder „unbedacht“, sondern übergriffig.

„Es tut mir leid, dass du dich verletzt fühlst“

Diese Form der Entschuldigung verschiebt die Verantwortung auf die Betroffene. Es geht nicht um ihre Gefühle, sondern um sein Verhalten. Nicht sie ist das Problem – sondern er. Wer so spricht, lenkt ab. Und das ist Teil eines größeren Musters.

Keine klare Haltung, keine Führungsverantwortung

Kurze ist zwar relativ zügig nach Bekanntwerden des Vorwurfs als parlamentarischer Geschäftsführer zurückgetreten – aber dazu hat auch die öffentliche Empörung beigetragen. Was fehlt, ist eine klare Positionierung der CDU-Spitze. Wenn Fraktionschef Heuer sagt „deshalb nehme ich seine Entscheidung mit Respekt zur Kenntnis“, dann ist das mehr als unangebracht und keine Führungsverantwortung, die hier nötig gewesen wäre. Mal wieder ein Deal hinter verschlossenen Türen, ein Du-du-du als Strafe – und die Betroffene kann sehen, wo sie bleibt?

Die institutionelle Schonhaltung

Dass Kurze nicht wegen seines Fehlverhaltens zurücktritt, sondern weil „die Zusammenarbeit im Parlament beeinträchtigt“ sei, ist bezeichnend. Der Schaden entsteht demnach nicht durch die Tat, sondern durch die öffentliche Thematisierung. Das Opfer? Unsichtbar. Die Struktur? Geschont.

Auch der Kommentar seines Fraktionsvorsitzenden Guido Heuer folgt dieser Logik: „Die Vorwürfe wiegen schwer.“ Mehr nicht. Kein Wort des Schutzes für die Betroffene. Kein politisches Signal gegen Machtmissbrauch. Schweigen im Dienste der Stabilität. Die Presseerklärung der CDU ist ein Musterbeispiel für:

  • Täterzentrierung
  • Emotionalisierte Entschuldigungsrhetorik
  • Vermeidung konkreter Verantwortung
  • Strukturelles Schweigen zum eigentlichen Problem: Sexismus und Machtmissbrauch

Sie zeigt einmal mehr, dass es in solchen Fällen weniger um Aufarbeitung geht – und mehr um Schadensbegrenzung im System.

Wir brauchen einen gesellschaftlicher Kulturwandel

Männer müssen lernen, dass eine Entschuldigung nie ausreichend ist und dass Verantwortung heißt: Zuhören, Konsequenzen akzeptieren, Verhaltensänderung. Der gesellschaftliche Diskurs muss „Sorry“-Mentalitäten durchbrechen.

Einzelfall? Ganz sicher nicht.

Was hier als isoliertes Missverständnis inszeniert wird, ist in Wahrheit Teil des patriarchalen Systems. Übergriffe passieren nicht im luftleeren Raum – sie werden ermöglicht durch Machtgefälle, Abhängigkeiten, Männerbünde und Schweigekartelle.

Und wenn sie bekannt werden, folgt meist ein bekanntes Drehbuch: Erst das Kleinreden. Dann das Bedauern. Schließlich der Rückzug – nicht aus Verantwortung, sondern zur Schadensbegrenzung.

„Sorry“ ist keine Aufarbeitung

Solange Männer glauben, mit einer persönlichen Entschuldigung sei es getan, bleibt alles beim Alten. Es braucht nicht nur Rücktritte, sondern Aufklärung. Nicht nur Betroffenheit, sondern Konsequenzen. Nicht nur Entschuldigungen, sondern strukturellen Wandel.

Was jetzt zählt

Sexualisierte Gewalt ist keine Privatsache. Sie ist politisch. Und sie ist systemisch. Wer sich wirklich glaubwürdig verhalten will, muss aufhören, um den heißen Brei zu reden – und anfangen, die Dinge beim Namen zu nennen: Machtmissbrauch. Sexismus. Übergriffigkeit. Und zwar unabhängig davon, ob sie strafrechtlich relevant sind oder nicht.

Die politische Kultur, die solche Taten duldet, schützt oder verschweigt, muss sich ändern. Und das fängt damit an, dass wir nicht mehr so tun, als sei es „nur ein Einzelfall“. Solange Schweigen politisch opportuner ist als Solidarität mit Betroffenen, bleibt alles wie es ist. Aber wir schulden es allen, die nicht mehr schweigen können: endlich hinzuschauen. Und zu handeln. Für alle Frauen. Und für mich.

 

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